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Rudelstellungen - ein Zwischenfazit & Kritik


Mark

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Rudelstellungen - eine kritische Betrachtung:

Das Konzept der (vererbten) Rudelstellungen geht davon aus, dass jeder Hund - auf welche Art und Weise auch immer - mit einer fest in seinen Anlagen verankerten Aufgabe (= Rudelstellung) geboren wird.

Außer mündlichen Überlieferungen, auf die sich Frau Ertel beruft, die in diesem Forum erstmalig im Jahre 2010 auftrat, gibt es vor 2011 keinerlei Dokumentationen zu diesem Konzept und auch keinerlei Hinweise zu den angeblichen Urhebern des Rudelstellungskonzeptes, einer Familie Werner.

Was an der Vermutung erblich (geburtlich) festgelegter Rollen widerspricht heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Genetische Grundvoraussetzungen:

Mendel hat die Grundgesetze der Genetik, den einfachen Erbgang, zu einer Zeit entwickelt, als es noch keinerlei Kenntnisse über Chromosomen und auch keinerlei technische Möglichkeiten zur Untersuchung dieser gab.
Erst diese Kenntnisse und Möglichkeiten haben dann die Mendelschen Regeln bestätigt – und gleichzeitig ein völlig neues Universum geöffnet: Die heutige Genetik.
Mendel konnte – mit den damals ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – nur den „einfachen Erbgang“, also die Regeln für ein Merkmal, welches auf einem Gen festgelegt wird, untersuchen.
So galten lange Zeit eineiige Zwillinge als der Beweis für die Wichtigkeit der Umwelteinflüsse (Erfahrungen), welche die Persönlichkeit und Verhaltensweisen eines Menschen formen.
Mittlerweile weiß man nicht nur, dass eine nicht überschaubare Anzahl von Merkmalen auf 2 oder mehr Gene verteilt wird, die sich gegenseitig beeinflussen, sondern auch, dass die bis dahin zu 99,9999% identische DNS von eineiigen Zwillingen in ihren kleinsten Sequenzen dermaßen unterschiedlich ist, dass für einen Genetiker eineiige Zwillinge völlig unterschiedliche Individuen sind.
Ging man nach Mendel bei der DNS von einem starren, geschlossenen Komplex aus, so weiß man heute, dass es sich um ein offenes System handelt, das einem ständigen Wandel unterliegt.
Am Anschaulichsten, weil sehr simpel zu erkennen, lässt sich diese Komplexität von Zusammenspiel der einzelnen Bausteine einer DNA verdeutlichen am Silberfuchs-Experiment:
Seit ungefähr 50 Jahren werden in diesem Experiment Silberfüchse nur auf EIN EINZIGES MERKMAL hin gezüchtet: Zahmheit ( = Zutraulichkeit dem Menschen gegenüber).

Dabei entwickelten sich – neben etlichen kleineren Abweichungen – auch folgende gravierenden Unterschiede zum ursprünglichen Phänotypen:
 

  • Die Zutraulichkeit zum Menschen der ehemals scheuen Füchse ist enorm
  • Die solitär und deshalb untereinander unverträglich lebenden Füchse ziehen nun das Leben in einer Gemeinschaft vor
  • Die vormals einheitliche Fellfarbe zeigt nun deutliche Farbvariationen
  • Statt Stehohren zeigen die Füchse nun häufig Schlappohren
  • Werden durch die Zuchtselektion auf Zahmheit eher geschlechtsreif

Diese Veränderungen haben sich innerhalb weniger Generationen vollzogen.
Nun hat der Mensch mit Beginn der Zivilisation in der Jungsteinzeit – also vor ca. 10.000 Jahren – eine rasante evolutive Entwicklung gemacht; manche Forscher sprechen von einer um das 100-fach beschleunigten Evolution.
Seit ungefähr dieser Zeit ist der Hund permanenter Begleiter des Menschen und hat sich der menschlichen Umwelt angepasst.
Es dürfe jedem klar sein, dass es aufgrund der Komplexität der DNS zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich ist, ein so komplexes Verhalten wie es das Rudelstellungs-Konstrukt beschreibt, genetisch nachzuweisen.
Allerdings dürfte es anhand der heutigen Kenntnisse über die Genetik und Epigenetik auch nahezu unmöglich sein, dass ein so kompliziertes und starres Konstrukt die permanenten Wandlungen der genetischen Struktur über die Jahrtausende überdauert haben sollte – wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat.

Statt dessen gibt es aber einige wissenschaftliche Erkenntnisse, die einer Existenz von vererbten Rudelstellungen eindeutig widersprechen:
 

  • Eine „ideale Gruppe“ (bei RS in Form eines 7-er-Verbandes) gibt es jedenfalls nach derzeitigen Erkenntnissen nicht
  • Hohe Anpassungsfähigkeit als evolutionärer Vorteil (widerspricht einer starren Verhaltensform)
  • Hochentwickeltes Sozialverhalten - Hunde besitzen die Fähigkeit, Sozialverhalten zu Lernen, das Lernen wird beeinflusst durch die äußeren Umstände/Erfordernisse
  • Die enge Hund-Mensch-Beziehung (Mutualismus)
  • Vererbtes/angeborenes Verhalten muss nicht erst erlernt (professionalisiert/konditioniert) werden
  • Eindeutige Erklärungen hündischen Verhaltens und dessen zugrunde liegenden Motivationen sind NICHT möglich

Woran liegt es, dass trotz dieser Fakten das Phänomen Rudelstellungen derzeit eine solche Verbreitung findet?
Ein großer Aspekt ist dabei möglicherweise die „kognitive Verzerrung“, welche den Blickwinkel so einengt, dass nur noch das gesehen wird, woran man glaubt; verstärkt wird das Ganze durch den Verweis auf die genetische Verankerung der „Stellungen“, die Interessierten suggeriert, dass dieses Sozialkonstrukt dem „Wesen des Hundes“ entspricht und somit ausschließlich durch Einhaltung der RS-konformen menschlichen Handlungsweisen ein „Schlüssel“ zur Verständigung mit dem Hund möglich ist.

Der genetische Exkurs und die derzeitigen wissenschaftlichen Fakten lassen zumindest vermuten, was das Rudelstellungs-Konzept ist:

Eine menschliche Idealvorstellung von möglichem Sozialverhalten von Hunden, die geformt wird durch menschliche Beeinflussung, entweder durch direkte Handlungen des Menschen oder durch Formung der Umweltfaktoren durch den Menschen.

Inwieweit dies zum Wohle des/der jeweiligen Hunde/s beiträgt, liegt allein in der Hand des Menschen.
Aus Sicht der Kritiker gibt es unkompliziertere und deutlich artgerechtere Wege, die zum Wohle des Hundes beitragen.

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Erläuterungen:

  1. Ideale Gruppe: Die Idee der Rudelstellungen geht von einer Idealgruppierung aus, die genau 7 Positionen umfasst. In der Natur gibt es nach derzeitigen Erkenntnissen vermutlich keine "ideale Gruppe", denn die Idealstärke einer Gruppe richtet sich immer nach den Einflüssen (intrinsisch und extrinsisch), die auf diese Gruppe einwirken. Davon ausgehend erschließt sich keinerlei Erkenntnis, die evolutionären Notwendigkeiten eine solche starre Aufgabenverteilung bewirkt haben könnten; ganz im Gegenteil: Ein entscheidender Entwicklungsvorteil, der nicht nur Hunden, sondern allem pflanzlichen und tierischen Leben auf diesem Planeten gegeben ist, ist die Fähigkeit zur Anpassung (Quellen u.a.: Verhaltensbiologie von Kappeler; Das Silberfuchs-Experiment von D. Belayev)
  2. Anpassungsfähigkeit: Nur wer sich an seine Umwelt anpassen kann, ist in der Lage zu überleben. Diese Fähigkeit zur Anpassung ist in den Genen unserer Hunde verankert und bestimmt maßgeblich ihr Verhalten. Hätten Hunde tatsächlich eine ihnen angeborene/vererbte Stellung, so wären Bedingungen, die sie am Ausleben dieser Stellung hindern, ein für sie zusätzlicher Stressor, der sich über den Hormonstatus nachweisen ließe. Man kann davon ausgehen, dass in den über 10.000 Jahren Domestikation der überwiegende Teil an Hunden nicht nach den Prinzipien dieses Konzeptes leben konnte, sondern sich den Bedingungen ihres menschlichen Umfeldes anpassen musste. Ein permanenter Stress (im Rudelstellungs-Konzept als Reparaturverhalten bezeichnet) wäre vermutlich ein evolutionärer Nachteil, der sich auf die gesamte Spezies Hund hätte auswirken und das Aussterben herbeiführen müssen – wer sich nicht anpasst, überlebt nicht. Statt dessen ist der Hund das am weitesten verbreitete und am engsten mit dem Menschen verbundene Haustier. Erwähnt werden muss an dieser Stelle noch, dass Untersuchungen an freilebenden Wölfen ergeben haben, dass die Rudelmitglieder mit dem höchsten Cortisolwert die jeweiligen Leittiere sind. Das widerspricht dem Rudelstellungs-Konzept, denn nach diesem müssten diese Werte sich innerhalb eines jeweiligen Rudels auf die einzelnen Rudelmitglieder so verteilen, dass sich Fehl- bzw. Doppelbesatz (=es fehlen Positionen im Rudel bzw. sind doppelt besetzt, womit ein erhöhter Cortisolwert zu erkennen sein müsste) klar erkennen lassen. (Quellen u. A.: Verhaltensbiologie von Kappeler; Das Silberfuchs-Experiment von D. Belayev)
  3. Sozialverhalten: „Der Mensch hat das Sozialverhalten von Hunden maßgeblich verändert“ (H. Feddersen-Petersen). Die genetische Vielfalt von Hundeartigen lässt sich am besten nachvollziehen am Silberfuchs-Experiment, bei dem es gelungen ist, aus ursprünglich solitär lebenden Füchsen innerhalb weniger Generationen durch Selektion auf „Zahmheit“ in Gemeinschaft lebende Füchse zu wandeln. Einem genetischen Pool kann man nichts hinzufügen, alles was sich daraus entwickelt, muss letztlich auch vorhanden sein; dieses Vorhandene entwickelt sich den jeweiligen Umständen entsprechend. Ein weiteres Beispiel: Der Vergleich Gehegewölfe – Freilandwölfe. Die gängige Meinung hierzu ist, dass sich das jeweilige Verhalten dieser Wölfe aufgrund der unterschiedlichen Haltungsbedingungen (= Umfeld) nicht vergleichen lässt. Tatsächlich lassen sich aber im Vergleich eindeutige Rückschlüsse auf das Potential des Sozialverhaltens ziehen: Bei Gehegewölfen zeigte sich eine klare, lineare Hierarchiestruktur (eine Schlussfolgerung daraus war die „Alphatheorie“, die sich auch heute noch hartnäckig in den Köpfen der Menschheit hält), bei den späteren Untersuchungen/Beobachtungen an freilebenden Wölfen zeigte sich aber, dass die Hierarchie dort nicht so linear ausgebildet ist, sondern sehr viel vielschichtiger und komplexer gestaltet wird. Das lässt den Schluss zu, dass Sozialverhalten den äußeren Umständen angepasst wird. Sozialverhalten ist folglich nicht etwa angeboren bzw vererbt, sondern erlernt. Hunde haben die Fähigkeit, Sozialverhalten zu lernen (Quellen u. A.: Eric H. W. Aldington und H. Feddersen-Petersen).
  4. Hund-Mensch-Beziehung (Mutualismus): Mutualismus ist eine Form interspezifischen Verhaltens, welche für beide artverschiedenen Partner von gegenseitigem Nutzen ist. Der Hund begleitet den Menschen seit mehr als 10.000 Jahren, die Domestikation (Manipulation des Genpools durch den Menschen zum Zwecke der Haustierwerdung) ist eng gekoppelt an die evolutive Veränderung des Menschen in diesem Zeitraum. Tatsächlich ist diese Veränderung der Hunde in der Beziehungsfähigkeit zum Menschen so weit fortgeschritten, dass ein Hund bei der Wahlmöglichkeit, eine Beziehung zu einem Hund oder einem Menschen eingehen zu können, den Menschen vorzieht. (Quellen u. A.: Ethologisches Wörterbuch, A. Heymer; Einführung in die Verhaltensforschung, Klaus Immelmann (Studientexte Paul Parey)
  5. Was Hunde denken: Tja, trotz aller Erkenntnisse und Spekulationen, werden wir das niemals genau wissen ... wir sind keine Hunde, fühlen nicht wie Hunde, denken nicht wie Hunde und können uns da nicht hineinversetzen. Wir können nur Schlüsse ziehen aus gezeigtem Verhalten, wobei sich manches ähnliche Verhalten zwar häufiger sehen lässt, aufgrund der heutigen verhaltensbiologischen Erkenntnisse aber oft auch zeigt, dass die Motivationen für ähnliches Verhalten durchaus sehr unterschiedlich sein können. Das wird aber häufig nur dann tatsächlich erkannt, wenn man ähnliches Verhalten miteinander vergleicht und die oft kaum zu sehenden abweichenden Aspekte herausfiltert. Bestes Beispiel ist hier der nach Vorne gehende Hund: Dieser oft als „dominant“ beschriebenen Verhaltensweise können völlig unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen, welche durch eine subjektive Sichtweise nicht mehr klar erkennbar sein können … womit wir bei Punkt 6 sind …
  6. Kognitive Verzerrung: "Wir glauben, was wir sehen … aber letztendlich SEHEN wir nur, was wir GLAUBEN" Einmal in diesem intrinsischen Kreislauf gefangen, ist es unendlich schwer, eine andere Sichtweise einzunehmen um OBJEKTIV betrachten (und bewerten) zu können. Der Fokus ist dann deutlich verstärkt auf Fakten gerichtet, welche die subjektive Annahme bestärken; Abweichungen werden INNERHALB dieser subjektiven Betrachtung erklärt (= „die Ausnahme bestätigt die Regel“) (Quelle: Wikipedia)
  7. Vererbtes/angeborenes Verhalten: Unter vererbtem/angeborenem Verhalten versteht man ein Verhalten, welches zwingend gezeigt wird, ohne dass es vorher erlernt werden musste; dazu gehört z. B. das Ausräumen des Nestes durch einen frisch geschlüpften Kuckuck, oder die Ei-Einrollbewegung der Graugans (die auch im Leerlauf vollzogen wird); auch die bevorzugte Nutzung einer Hand ist zumindest angeboren; erlernt wird hier nur die Feinmotorik, die im Rahmen der gesamten körperlichen Entwicklung stattfindet. „Quellen u. A.: Lexikon der Verhaltensbiologie, Gattermann; Verhaltensbiologie von Kappeler,2011; Campbell Biologie, 2012)



(die Stellungnahme ist aus einer Zusammenarbeit mehrerer Forumsmitglieder entstanden)

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